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27.03.2017
Strategie

Beyond Zeitmanagement – Zeitmanagement mit agilen Methoden

Während unsere Vorfahren die Zukunft etwa in Gestalt des Jüngsten Gerichts und damit auch die Zeit als vorbestimmt angesehen und sich dieser untergeordnet haben, ist es für uns selbstverständlich, unsere Zeit zu planen, sie beherrschen, gar besitzen zu wollen. Die Zeit hat sich zu einem Wirtschaftsfaktor gewandelt, den es möglichst optimal zu nutzen und profitabel einzusetzen gilt.
IT&I Magazin Nr. 24 - "Beyond Zeitmanagement – Zeitmanagement mit agilen Methoden"
Dementsprechend wurden immer mehr und vermeintlich besser ausgeklügelte Ansätze für das Zeitmanagement entwickelt (vgl. etwa [Seiwert 2005] und [Seiwert 2009]). Wären diese erfolgreich, müssten wir in einem Zeitwohlstand leben bzw. leben können. Tatsächlich hat die Zeit keineswegs ihren Charakter der Knappheit verloren. „Ganz im Gegenteil: Je mehr Zeit wir sparen, desto weniger haben wir, lautet die verbreitete […] Volksweisheit.“ [Rosa 2012: 43, Hervorhebungen im Original]


Hier wird der Frage nachgegangen, ob es eine Chance gibt, der Zeitnot zu begegnen. Unser Antwortversuch besteht in dem Vorschlag, Zeitengpässe mit Hilfe agiler Methoden zu reduzieren.


Zeitnot als Folge sozialer Beschleunigung


Das Gefühl der Zeitnot wird oft in das Bild „Die Zeit rast“ gekleidet. So einprägsam diese Vorstellung auch sein mag, so falsch ist sie: „Die Zeit bleibt immer dieselbe.24 Stunden waren gestern 24 Stunden, sind es heute und werden es auch morgen sein.“ [Haack/Tippe 2011: 27]. Plausibel scheint viel mehr, dass unser Zeitdruck aus sozialer Beschleunigung, dem Zusammenwirken von

  • technischer Beschleunigung,
  • Beschleunigung des sozialen Wandels und
  • Beschleunigung des Lebens-/Arbeitstempos,

resultiert (vgl. hierzu und im folgenden [Rosa 2012: 243ff.] sowie [Haack 2015: 252ff.]).

Zur Erläuterung beginnen wir mit der technischen Beschleunigung: Der Zusammenhang „Zeit ist Geld“ war beispielsweise dem schwäbischen Kaufmannsgeschlechts der Fugger bereits im 16. Jahrhundert klar. Daher ersetzten sie die bis dahin üblichen Ratsboten zur Übermittlung von kaufmännischen Daten durch ein optisches Stafettensystem. Mit diesem waren sie schneller und damit erfolgreicher als ihre Wettbewerber. Ähnliche Exempel sind die Entwicklung und der Einsatz von Dampfmaschinen, aber auch von Computern, 3-D-Druckern und Smartphones und die Möglichkeiten, die sie uns heute bieten. Diese technischen Neuerungen folgen in immer kürzeren Zeitintervallen aufeinander. Anders ausgedrückt: wir leben in einer Welt der technischen Beschleunigung.


Diese technische Beschleunigung wiederum ist für jeden von uns ersichtlich eine wesentliche Ursache für den beschleunigten Wandel des sozialen Miteinanders von Menschen sowohl in ihren beruflichen als auch in ihren privaten Umfeldern. So führen uns Computer, Smartphone und Internet in immer schnellerer Abfolge zu neuen Arbeitsstrukturen (Beispiel: virtuelle Projektteams), neuen Produktionsweisen (Beispiel: 3-D-Druck), veränderten Kommunikationsstrukturen (Beispiel: E-Mail), veränderten Beziehungsstrukturen und neuen Formen sozialer Identität (Beispiel: soziale Netzwerke). Diese Veränderungen erfolgen ebenso wie die technischen Neuerungen in immer kürzeren Zeitintervallen. Anders ausgedrückt: wir leben in einer Welt des beschleunigten sozialen Wandels.


Mit den Anforderungen dieser Gesellschaft mithalten zu können, erfordert von uns Menschen zu guter Letzt, schnell genug zu sein, genauer: in immer kürzeren Zeitintervallen immer schneller und schneller zu werden – unser Lebenstempo zu beschleunigen. Dies wiederum führt zum Bedarf an immer schnellerer Technik und bringt uns wieder zum Ausgangspunkt „technische Beschleunigung“ in Gestalt immer kürzerer Zyklen technischer Innovation zurück!


Zusammengefasst erkennen wir, dass die oben genannten drei Dimensionen der sozialen Beschleunigung einen geschlossenen, sich selbst antreibenden und immer schneller werdenden „Akzelerationszirkel“ [Rosa 2012: 251] bilden: Die technische Beschleunigung führt zur Beschleunigung des sozialen Wandels, diese fordert die Beschleunigung des Lebenstempos, die sich grundsätzlich nur durch technische Beschleunigung realisieren lässt (Abbildung 1).

Akzelerationszirkel der sozialen Beschleunigung
Abbildung 1: Der Akzelerationszirkel der sozialen Beschleunigung.

Moderation der sozialen Beschleunigung


Mit dem Modell des Akzelerationszirkels der sozialen Beschleunigung haben wir einen Ansatz zur Verfügung, der uns den Weg aus der Zeitnot ermöglichen kann (vgl. hierzu und im folgenden [Haack 2015: 267ff.]): der Zeitdruck nimmt zu bzw. ab, je nachdem, ob der Akzelerationszirkel mehr oder weniger Beschleunigung erzeugt. Daher erscheint es sinnvoll, nach Wegen zu suchen, die soziale Beschleunigung passend zur jeweiligen Arbeits- oder Lebenssituation zu reduzieren oder zu erhöhen.


Dabei kann es uns aber nicht darum gehen, dass der Akzelerationszirkel zum Stillstand kommt. Dies bedeutete nämlich beispielsweise, dass wir uns der technischen Modernisierung verschlössen – ein sicher nicht gewünschter Zustand. Es kann aber auch nicht darum gehen, den Akzelerationszirkel ungebremst laufen zu lassen. Dies bedeutete nämlich, ein Maß an sozialer Beschleunigung und damit ein Maß an Zeitverdichtung zuzulassen, dem wir Menschen auf Dauer garantiert nicht mehr gewachsen wären.


Es muss also in jeder gegebenen Situation darum gehen, den Akzelerationszirkel so zwischen den Status „Stillstand“ und „ungebremst“ zu steuern, dass er sich ähnlich wie ein Stromgenerator verhält, der immer die angemessene, erforderliche Strommenge – nicht mehr und nicht weniger – bereitstellt. Je nach Sachlage kann es also sein, dass wir beispielsweise das Tempo zur Erledigung anstehender Aufgaben gut begründet bewusst verringern oder auch bewusst erhöhen!


Dieses Vorgehen entspricht grundsätzlich der Steuerung eines Kernreaktors mit Hilfe von schwerem Wasser: indem die Brennstäbe des Reaktors mehr oder weniger tief in das als so genannter Moderator eingesetzte schwere Wasser getaucht werden, wird die im Reaktor ablaufende Kettenreaktion moderiert, d.h., immer auf das Level zwischen „Stillstand“ und „ungebremst“ (GAU) gebracht, auf dem dieser Stromgenerator gerade so viel Strom produziert, wie in einer gegebenen Situation erforderlich ist.

Der Akzelerationszirkel sozialer Beschleunigung besitzt die in Abbildung 2 markierten sechs Punkte, an denen Moderatoren analog dem schweren Wasser im Atomkraftwerk zu seiner Steuerung ansetzen können. Wie können derartige Moderatoren aussehen?

Moderierter Akzelerationszirkel der sozialen Beschleunigung
Abbildung 2: Der moderierte Akzelerationszirkel der sozialen Beschleunigung.
Agile Ansätze als Moderatoren des Akzelerationszirkels


Mit Blick auf die vorangehenden Überlegungen wird deutlich, dass nur solche Methoden, Verfahren und Werkzeuge als Moderatoren des Akzelerationszirkels in Frage kommen können, die situationsgerechtes handeln ermöglichen. Welche Ansätze können das aber sein?


Gemäß Theorie besitzen agile Methoden und die sie unterstützenden Werkzeuge bzw. die aus ihnen abgeleiteten Verfahren die geforderte Eigenschaft, sind sie doch ausdrücklich auf Ausprobieren, Erkennen und Reagieren – situationsgerechtes Verhalten – ausgerichtet. [Haack/Müller-Trabucchi 2016: 22f.]


In der Praxis lässt sich diese Moderatoreneigenschaft exemplarisch bestätigen: Konkret haben wir aus der Softwareentwicklung bekannte agile Ansätze wie Selbstorganisation von Teams, Sprints, Stand Up-Meetings und Kanban-Boards im Frühjahr und Herbst 2016 in fünf voneinander unabhängigen Zeitmanagement-Workshops mit insgesamt
etwa 150 vorwiegend im IT-Umfeld tätigen technischen Redakteuren zur Diskussion gestellt. Die Workshops haben beispielsweise gezeigt, dass mit Kanban-Boards und Stand Up-Meetings Transparenz in Projekten geschaffen werden kann, die belastbare Begründungen für etwaig sinnvolle Veränderungen der Zusammenarbeit (Stichwort: Beschleunigung des sozialen Wandels) oder des Arbeitstempos (Stichwort: Beschleunigung des Lebenstempos) liefert, aber auch, dass diese Veränderungen mittels Selbstorganisation der Teams möglich werden.


Zusammengefasst haben wir also eine erste Gruppe von Methoden, Verfahren und Werkzeugen gefunden, die als Moderatoren des Akzelerationszirkels und damit als Instrumente zur wirksamen Reduktion von Zeitdruck und Zeitnot eingesetzt werden können. Wie weitere Moderatoren identifiziert und konstruiert werden können, ist derzeit nicht abschließend geklärt und daher Gegenstand weiterer Untersuchungen.

Literaturverzeichnis


Biermann, Th. 2015 (Hrsg.): Hochschulmanagement in Theorie und Praxis; Wildau Verlag 2015

Haack, B. 2015: Beschleunigung moderieren – statt Zeit managen; in: [Biermann 2015: 241-288]

Haack, B.; Müller-Trabucchi, M. 2016: Wege aus der Zeitfalle; technische kommunikation 38 (2) 2016: 18-26

Haack, B.; Tippe, U. 2011: Wider die Zeitkrise – Ein Plädoyer für die Konzentration; Informationstechnologie und Immobilien – Magazin für IT-Anwendungen in der Wohnungswirtschaft 16 (2011): 27-30

Rosa, H. 2012: Beschleunigung – Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne; Suhrkamp Taschenbuch Verlag 2012 (9. Aufl.)

Seiwert, L. J. 2005: Wenn du es eilig hast, gehe langsam: Mehr Zeit in einer beschleunigten Welt; Campus Verlag 2005 (9. Aufl.)

Seiwert, L. J. 2009: Noch mehr Zeit für das Wesentliche: Zeitmanagement neu entdecken; Goldmann 2009

Zur Person:
Prof. Dr. Bertil Haack
Prof. Dr. Bertil Haack
studierte an der Technischen Universität in Berlin Mathematik und Physik. Nach seinem Eintritt in die Berliner Bank AG 1985 und deren Tochtergesellschaft BB-DATA GmbH 1987, war er dort bis 1996 in verschiedenen IT-Positionen beschäftigt. Anschließend leitete er zwischen 1996 und 1998 als Geschäftsführer das Wohnungsbau-Rechenzentrum Berlin und die Wohnungswirtschaftliche Beratungs- und Softwaregesellschaft Berlin. Seit 1999 ist Haack als selbstständiger Unternehmensberater tätig und leitete 2001 bis 2011 die von ihm gegründete G&S Goals & Strategies GmbH. Seit 2004 arbeitet Haack hauptberuflich an der TH Wildau, zunächst als Gastprofessor, später als Professor für Allgemeine BWL. Zuletzt übte er hier bis 2013 sechs Jahre lang das Amt als Dekan des Fachbereichs Wirtschaft, Verwaltung und Recht aus.
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